UN-Bericht unterschätzt die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima

Am 2. April 2014
veröffentlichte der Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur
Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (UNSCEAR) seinen
Fukushima-Bericht. ÄrztInnen der atomkritischen Friedensnobelpreisorganisation
IPPNW werfen diesem Bericht vor, die gesundheitlichen Folgen der
Atomkatastrophe systematisch zu verharmlosen und haben eine kritische Analyse
des UNSCEAR-Berichts verfasst. Leitender Autor dieser Analyse ist der Berliner
Kinderarzt und IPPNW-Vorstandsmitglied Dr. Alex Rosen. Einleitend lobt er die
Arbeit der UN-Wissenschaftler: “Als Mediziner, die sich mit den Folgen
radioaktiver Strahlung auf die menschliche Gesundheit und das Ökosystem
befassen, schätzen wir die Tatsache, dass sich die Vereinten Nationen mit
dieser komplexen Thematik in einem umfangreichen Bericht befassen. So wird
darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Atomunglück von Fukushima nicht um ein
singuläres Ereignis handelt, sondern um eine andauernde Umweltkatastrophe; dass
diese nicht auf die Grenzen der Präfektur Fukushima beschränkt ist, sondern
Menschen in ganz Japan und darüber hinaus betrifft; und dass die Havarie der
Atomreaktoren von Fukushima Dai-ichi zur größten jemals gemessenen radioaktiven
Verseuchung der Weltmeere geführt hat.” Basierend auf den, im UNSCEAR-Bericht
aufgeführten kollektiven Lebenszeitdosen für die japanische Bevölkerung durch
radioaktiven Niederschlag gehen die IPPNW-ÄrztInnen in den kommenden
Jahrzehnten von ca. 1.000 strahlenbedingten Schilddrüsenkrebsfällen und
zwischen 4.300 und 16.800 weiteren Krebsfällen aus. Allerdings stellt Rosen
fest, dass “Vorhersagen nur so gut sei können, wie die Annahmen und die Daten
auf die sie basieren”. Diese müssen jedoch laut IPPNW auf Grund der folgenden
Punkte als systematische Unterschätzungen angesehen werden:



            1          Die Validität der im UNSCEAR-Bericht
aufgeführten Emissionswerte ist zweifelhaft


            2          Es gibt ernsthafte Bedenken bezüglich
der Berechnung der internen Strahlendosen


            3          Es gibt
keine verlässlichen Dosisberechnungen für die Arbeiter im AKW Fukushima


            4          Der
UNSCEAR-Bericht ignoriert die Strahleneffekte auf die Tier- und Pflanzenwelt


            5          Die
besondere Strahlenempfindlichkeit des ungeborenen Kindes wird nicht
berücksichtigt


            6          Nicht-Krebserkrankungen
und genetische Effekte werden von UNSCEAR ignoriert


            7          Der
Vergleich von radioaktivem Niederschlag mit natürlicher Hintergrundstrahlung
ist unzulässig


            8          Die
Interpretation der verfügbaren Daten durch UNSCEAR ist fragwürdig


            9          Die
von den Behörden veranlassten Schutzmaßnahmen werden falsch dargestellt


            10        Schlussfolgerungen
aus den Schätzungen der Kollektivdosen werden nicht präsentiert


 


Laut UNSCEAR
sei es “unwahrscheinlich, dass gesundheitliche Folgen in der
Allgemeinbevölkerung oder der überwiegenden Mehrheit der Arbeiter auf die
radioaktive Strahlung durch den atomaren Unfall von Fukushima-Daiichi
zurückzuführen sein werden”.
Hierzu Rosen: “Selbstverständlich ist es
nicht möglich, einen einzelnen Krebsfall auf einen spezifischen Auslöser zurück
zu führen, da Krebserkrankungen  kein
Herkunftssiegel tragen. Doch allein die Zahl der bisher entdeckten
Schilddrüsenkrebsfälle ist bereits unerwartet hoch. Die schrecklichen Folgen der Atomkatastrophe für
zehntausende Familien auf ein statistisches Problem zu reduzieren ist
unangebracht und ignoriert die vielen individuellen Schicksale der betroffenen
Menschen.


 


Bis Ende Dezember 2013 wurden bereits
bei 33 Kinder mit Schilddrüsenkrebs Operationen durchgeführt; 41 weitere haben
ebenfalls krebsverdächtige Biopsieergebnisse und müssen noch operiert werden.
Es ist zu erwarten, dass die Zahl der Krebsfälle weiter steigen wird, da
bislang erst für 70% der betroffenen Kinder Ergebnisse vorliegen und hunderte
Kinder mit suspekten Ergebnissen in den ersten Reihenuntersuchungen noch auf
ihre Folgeuntersuchungen warten. Japanische Krebsstatistiken belegen in der
entsprechenden Altersgruppe normalerweise eine Inzidenz von weniger als einem
Schilddrüsenkrebsfall pro Jahr. “Medizinische Vorsorgeuntersuchungen und
Studien zu anderen Krebs- und Nicht-Krebserkrankungen werden in den kommenden
Jahrzehnten benötigt um die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe
zuverlässig zu überwachen und den vom radioaktivem Niederschlag betroffenen
Menschen die bestmögliche medizinische Betreuung zukommen zu lassen,” so
Rosen. 


 


Grund für die systematische
Verharmlosung der Atomkatastrophe ist laut IPPNW die Tatsache, dass es sich bei
UNSCEAR um ein industrienahes Gremium handelt, welches von den Atomstaaten mit
unkritischen Wissenschaftlern besetzt wird, von denen viele vorher Karrieren in
Institutionen der Atomindustrie gemacht haben. Es geht, so Rosen, bei der
Kritik am UNSCEAR-Bericht “nicht nur um eine unabhängige wissenschaftliche
Forschung, die sich keiner politischen oder wirtschaftlichen Einflussnahme
unterwirft, sondern vor allem um das universelle Menschenrecht auf Gesundheit
und das Leben in einer gesunden Umwelt. Dies sollte die Leitlinie für die
Evaluation von gesundheitlichen Folgen der Fukushima-Katastrophe sein, nicht
die Interessen der Atomlobby.”


 


Die englischsprachige
kritische Analyse des UNSCEAR-Berichts findet sich unter hier