Lehren für Mühleberg. Heikle menschliche Faktoren beim AKW-Rückbau

NZZ. 12.6.2015 von Davide Scruzzi. Beim Rückbau des AKW Mühleberg stehen technische Probleme nicht im Zentrum, wie ein Blick auf Deutschland zeigt. Herausforderungen sind die Motivation der Mitarbeiter, aber auch diffuse Ängste.

Sie sehen weder modern aus, noch strahlen ihre experimentell wirkenden Bauteile Sicherheit aus: die Roboter in den Hallen des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Der Ingenieur Patrick Kern weiss selbst, dass seine Maschinen von wenigen Metern Durchmesser für den Rückbau von Atomkraftwerken noch weit von der breiten praktischen Anwendung entfernt sind.

In den Werkstätten des KIT wird viel an der Entwicklung von Maschinen gearbeitet, die unter Wasser Teile der Reaktordruckbehälter zersägen sollen oder in Hallen mittels Saugvorrichtungen an Wände und an Decken hinaufkriechen, um Betonschichten abzuschleifen, die mit radioaktivem Staub belastet sind. Dabei geht es nicht nur um Effizienzbemühungen. Viele Arbeitsschritte, etwa am Kern der Anlage, wären für Menschen zu gefährlich. Auch Arbeiten an schwachaktiven Teilen sind problematisch, weil die Dauer der radioaktiven Exposition selbst bei schwachen Dosen zu begrenzen ist.

Mitarbeiter sollen bleiben

Der Teufel steckt oft im Detail – etwa in der Konstruktion von Schleifmaschinen, die auch die engsten Ecken von Räumen erfassen, wie an den Präsentationen im KIT klar wurde, zu der die Schweizer Organisation «AerztInnen für soziale Verantwortung / zur Verhütung eines Atomkrieges» diese Woche Journalisten eingeladen hat.
Doch dominiert für den ab 2019 terminierten Rückbau des AKW Mühleberg beim Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) wie auch bei der Betreiberfirma BKW die Meinung, dass Fragen der Organisation und nicht die technische Umsetzung zentrale Herausforderungen beim Rückbau sind.

Um absehbare Verzögerungen bei den Rückbauschritten oder Verspätungen in Bewilligungsverfahren auszugleichen, ist etwa ein umfangreiches Projektmanagement notwendig, das ebenfalls Gegenstand von Forschungsprojekten im KIT ist. Man zähle zudem auch die Kontrolle des Personalbestandes zu den eigentlichen Überwachungsaufgaben, sagt Sebastian Hueber vom Ensi. Im Fall von Mühleberg bemängelt die Behörde mit Blick auf 2014 weiterhin die als hoch eingestufte Wechselrate im Mitarbeiterbestand. Im letzten Jahr wurden dazu Werte von über 10 Prozent genannt – mehr als in den anderen AKW. Bei der BKW spricht man von einer Fluktuation im «üblichen» Bereich.

Es müssten während des Rückbaus qualifizierte Fachleute insbesondere für den Strahlenschutz vorhanden sein, so das Ensi. So soll im Stilllegungsprojekt, das die BKW bis Ende Jahr beim Ensi einreichen wird, auch der geschätzte Personal- und Zeitbedarf detailliert beschrieben werden. Neuankömmlinge können Abgänge nicht so leicht ersetzen. Der Abbruch erfordert umfangreiche Kenntnisse über Einzelheiten des baulichen Zustands, über die nur erfahrene Mitarbeiter verfügen. Das ist auch ein Grund, weshalb sowohl die deutschen Stromkonzerne wie auch nun die BKW den raschen Rückbau wählen und nicht den – ebenfalls im Gesetz zugelassenen – «sicheren Einschluss» der Anlage bis zu einer gewissen Reduktion der Strahlenbelastung. Insgesamt rechnet die BKW mit einem nötigen Personalbestand von durchschnittlich 200 eigenen Mitarbeitern während der nach 2019 beginnenden 15-jährigen Nachbetriebs- und Rückbauzeit. Derzeit zählt das Werk rund 350 Mitarbeiter. Bei der BKW seien Personalfragen bereits mit dem Stilllegungsentscheid 2013 angegangen worden, mit einem Massnahmeplan zur Mitarbeiterbindung, sagt Konzernsprecher Tobias Fässler. Es würden etwa Weiterbildungen für  Rückbauphase aufgegleist – Massnahmen, die das Ensi begrüsst.

Die Verantwortlichen des stillgelegten AKW Biblis in der Nähe von Worms erwähnen zudem auch einen nötigen Kulturwandel zur Sicherung der Motivation. Wichtige Jahresziele seien ja plötzlich nicht mehr die produzierte Strommenge, sondern Aspekte wie der energiesparende Betrieb der ganzen Anlage, deren abgebrannte Brennelemente weiterhin zu kühlen sind und deren Gelände immer noch vom Sicherheitsdienst überwacht werden muss.

Konfliktpotenzial bleibt

Sowohl die BKW wie auch die Aufsichtsbehörde Ensi pflegen den Austausch mit Verantwortlichen in Deutschland, wo etwa beim Kraftwerk Stade in Niedersachsen der Rückbau weit fortgeschritten ist. Die Voraussetzungen für einen reibungslosen Rückbau sind hierzulande besser als in Deutschland, wo allein schon der Ort für die Zwischenlagerung der radioaktiven Abfälle ein Politikum ist und die Stromkonzerne wegen der vorzeitigen Ausserbetriebnahme der Anlagen Schadenersatzforderungen erheben. Die BKW habe auch «recht früh» den Kontakt zu den Umweltorganisationen gesucht, lobt Kaspar Schuler, Geschäftsleiter der Allianz Atomausstieg. Im Gegensatz zu einzelnen AKW-Kritikern steht er auch hinter dem Plan, eine Anlage rasch zurückzubauen und nicht jahrzehntelang zuzuwarten, bis sich ein Teil der Radioaktivität reduziert. Es bestehe andernfalls die Gefahr, dass sich die Firmen der finanziellen Verantwortung entzögen, so Schuler. Angesichts der Komplexität des Rückbaus zeige sich der Nutzen vorausschauender Planung für Politik und Wirtschaft, was für frühzeitig festgelegte Laufzeiten spreche, sagt Schuler mit Blick auf die energiepolitische Debatte in der Schweiz.

Die Rückbauprojekte bewegten in Deutschland die Bevölkerung im Allgemeinen wenig; eine Ausnahme
seien da die Aspekte der Freimessung, sagt Arno Huth von der AKW-kritischen Initiative «Atomerbe Obrigheim». Als Freimessung wird der auch in der Schweiz vorgesehene Prozess bezeichnet, bei dem Abbruchmaterial radiologisch untersucht wird, nachdem Schichten radioaktiven Staubs oder flüssiger Rückstände entfernt worden sind. Liegen die Strahlenwerte unter einem pro Nuklid festgelegten Maximum, erfolgt die offizielle Freigabe der Stoffe, die dann wie normaler
Abfall behandelt werden, ja auch in Recyclingkreisläufe gelangen können. Reaktionen rund um leicht erhöhte Strahlenwerte in Gewässern zeigten auch in der Schweiz, dass die gesellschaftliche Sensibilität selbst dann hoch ist, wenn Grenzwerte nicht überschritten werden. Auffällig ist, dass in Frankreich auch Abfälle mit sehr tiefen Strahlenwerten gesondert entsorgt werden.

Beim Rückbau des AKW Mühleberg dürften gemäss der BKW rund 200 000 Tonnen an Materialien anfallen. Davon dürften weniger als zwei Prozent als radioaktive Abfälle gelten, die ins Zwischenlager Würenlingen und am Schluss in das noch zu bauende Tiefenlager gelangen werden. Von den übrigen 98 Prozent dürfte der grösste Teil keine radioaktiven Verunreinigungen aufweisen, sagt Tobias Fässler von der BKW. Man gehe davon aus, dass 135 000 Tonnen an Material wiederverwertet werden könnten, 54 000 Tonnen sollen auf Deponien gelangen. «In Absprache mit dem Kanton Bern wird später ein Deponiekonzept erarbeitet», sagt Fässler.

Die Ablagerung von dekontaminiertem Bauschutt auf Deponien stosse in Deutschland auf lokalen Widerstand, sagt Arno Huth.

Ein 800-Millionen-Projekt

Weil der Stromkonzern BKW angeordnete Investitionen in die Sicherheit des AKW Mühleberg scheute, hat er 2013 die Stilllegung auf 2019 hin angekündigt. Erste Rückbauarbeiten erfolgen, während die Restwärme der Brennelemente im Kühlbecken abklingt, dessen Sicherheit auf Geheiss des Ensi bis 2020 zu verstärken ist. Mit der Entfernung der Brennstäbe soll ab 2024 dann der nukleare Rückbau erfolgen. Ab 2031 sollen nur noch konventionelle Arbeiten nötig sein, um das Areal ab 2034 «naturnah» oder industriell (etwa für einen anderen Kraftwerkstyp) zu nutzen. Die Kosten des ersten Rückbaus eines grossen Schweizer AKW werden auf 800 Millionen Franken geschätzt. Zur Deckung besteht ein staatlich beaufsichtigter Fonds.

http://www.nzz.ch/schweiz/heikle-menschliche-faktoren-beim-akw-rueckbau-1.18560637