Japans Regierung auf der Suche nach einer neuen Energiestrategie

NZZ vom 3.7.2012 – International Seite 4

Keine Frage von Prozentzahlen

Wie Japans Regierung auf der Suche nach einer neuen Energiestrategie den Puls der Bevölkerung fühlt

Vertreter der japanischen Regierung erörtern mit der Bevölkerung, welchen Anteil Atomstrom in der Energieversorgung künftig haben soll. Bei einem Hearing in der Stadt Fukushima stossen sie auf kritische Menschen.

Patrick Zoll, Fukushima

Der Mann ist sichtlich aufgeregt. «10 Prozent? 20 Prozent? 25 Prozent? Ist das Ihr Ernst? Ich bin 100 Prozent gegen Atomstrom!», ruft er laut in den Konzertsaal von Fukushima. Die Beamten in schwarzen Anzügen in der ersten Reihe rühren sich nicht. Sie sind gekommen, um von der Bevölkerung die Meinung zu den Szenarien der neuen Energiepolitik zu hören, welche die japanische Regierung noch diesen Sommer verabschieden will. An der Spitze der Beamtengruppe steht der 40-jährige Goshi Hosono. Er ist Umweltminister. Zudem auch Minister für Wiederaufbau und die Verhinderung nuklearer Unfälle und Staatsminister für Atomenergiepolitik und Verwaltung.

«Keine sichere Energiequelle»

Konkret lautet die Frage der Regierung: Welcher Anteil der Stromproduktion soll 2030 noch aus Atomenergie kommen? 20 bis 25 Prozent oder eher 10 Prozent? Oder soll Japan sich sogar von der Technologie verabschieden, die das Land noch vor eineinhalb Jahren als perfekt für seine rohstoffarme Wirtschaft ansah? Atomstrom sichere langfristig die Versorgung, sei CO2-neutral und erst noch sicher, wurde den Japanern gesagt.

In der Stadt, deren Name in der ganzen Welt als Synonym dafür steht, was passiert, wenn Atomreaktoren ausser Kontrolle geraten, glaubt das heute niemand mehr. «Es ist doch völlig absurd, überhaupt irgendwelche Prozentzahlen anzugeben», sagt bereits der erste Redner dieses Nachmittags vorwurfsvoll zu den Beamten und gibt damit den Ton vor: «Atomenergie ist keine sichere Energiequelle. Wie kommt es Ihnen da in den Sinn, die Reaktoren von Oi wieder aufzuschalten?» Er erntet Applaus und zustimmende Zurufe.

Traumatisierte Bevölkerung

Das Publikum hier in Fukushima unterscheide sich von jenem in den anderen Städten, wo öffentliche Hearings schon stattgefunden hätten, sagt Kenichi Shimomura. Der freundliche, graumelierte Mann, der eigentlich Öffentlichkeitsarbeit für das Kabinett von Regierungschef Yoshihiko Noda macht, leitet die Diskussion in dem städtischen Konzertsaal in äusserst zurückhaltender Art. 30 statt nur 12 Personen wie an früheren Veranstaltungen hätten das Wort erhalten, sagt er. Man versuche, dem grossen Bedürfnis der Menschen hier, sich Gehör zu verschaffen, gerecht zu werden, erklärt er im Gespräch mit der NZZ. Selbst wenn ihm seine Kollegen mit Handzeichen zu verstehen geben, der Zeitrahmen sei überschritten, lässt Shimomura die Leute ausreden. Selber würde er es wohl kaum so sagen, doch zeitweise gleicht das Hearing im Konzertsaal von Fukushima einem Debriefing für Traumatisierte.

Fast alle der rund 200 Anwesenden sind nach dem 11. März 2011 evakuiert worden. Sie mussten die verstrahlten Gebiete um das Kraftwerk Fukushima Daiichi fluchtartig verlassen; sie liessen Hab und Gut, Garten, Haustiere zurück. Und einige von ihnen auch Verwandte, die beim Tsunami umkamen, der die Atomkatastrophe erst auslöste. Viele der 21 Männer und 9 Frauen, die je fünf Minuten das Wort erteilt bekommen haben, sprechen von ihrem vorherigen Leben: als Biobäuerin, als Betreiberin eines kleinen Hotels, als Ladenbesitzer. Heute leben sie auf wenigen Quadratmetern in Containersiedlungen. Aussicht auf Rückkehr: schlechte bis keine.

Keine Diskussion über Energie

Der Minister möchte eigentlich über Vor- und Nachteile der drei Szenarien für ein neues Energiekonzept sprechen: Seine Angestellten haben es ihm in einer Powerpoint-Präsentation säuberlich aufgelistet. Hosono sitzt in der ersten Reihe, vor ihm auf der Bühne das Halbrund mit zweimal 15 Menschen, wie die Jury eines Gerichts. Als Hosono gemäss seinem Plan etwa auf die Kosten von Atomenergie und den Alternativen zu sprechen kommt, tönt es ihm von der Bühne entgegen: «Atomenergie soll günstig sein?» – «Das ist doch ein Hohn. Schauen Sie sich einmal den Preis an, den wir bezahlen.» Fast alle Umfragen in Japan zeigen eine grosse Skepsis gegenüber der Atomenergie, und die wöchentlichen Anti-Atom-Demonstrationen in Tokio ziehen mehr und mehr Menschen an. Der Sprecher Shimomura berichtet, in anderen Städten fänden bei den Hearings intensive Diskussionen über die drei Szenarien statt. Dabei hätten sich immer auch Leute für die 10- oder die 20-bis-25-Prozent-Lösung starkgemacht. «Während die Bürger anderswo diese Frage im Kopf zu beantworten suchen, stehen bei den Menschen hier in Fukushima die Wut im Bauch und der Schmerz im Herzen zuvorderst», meint Shimomura verständnisvoll.

Entscheid schon gefallen?

Kritiker monieren, dass die Hearings bloss eine Alibiübung seien. Der Entscheid sei längst gefallen. 15 Prozent, die goldene Mitte, werde es am Ende heissen. Der Ausstieg, der die einflussreiche Atomwirtschaft Abermillionen kosten würde, sei nicht realistisch. Er habe jede Aussage gehört und werde sie nicht vergessen, sagt Minister Hosono in seiner kurzen Abschlussrede. Er erntet spöttische Zurufe aus dem Publikum.

Trotzdem geht Hosono zum Schluss auf die Teilnehmer auf dem Podium zu und führt ein Gespräch mit einem älteren Teilnehmer. Als er von der Bühne herunterkommt, bricht ein kleiner Tumult los. Zwei Frauen in T-Shirts mit Slogans gegen Atomkraft schreien den Minister wütend an. Die Saalordner machen sich daran, die Frauen zurückzuhalten, die Gesichter von Hosonos Bodyguards werden zu Stein. Die Kameraleute, die sich schon zum Gehen bereitgemacht hatten, richten die Kameras auf sie und knipsen die Scheinwerfer wieder an.

Was der Regierung denn eingefallen sei, die Reaktoren von Oi wieder aufzufahren, rufen sie vorwurfsvoll. Hosono bleibt ruhig und hört den Frauen geduldig zu. Bei allen Anfeindungen entschuldigt er sich, erklärt, dass die geäusserten Meinungen wirklich bei der Entscheidungsfindung mit einbezogen würden. Als Kompromiss bietet sich Shimomura an, mit den Frauen anschliessend in einem Café weiterzudiskutieren – der Minister wird von den Medien und dann zurück in Tokio erwartet. Eineinhalb Stunden später, es ist mittlerweile abends um neun, und der Minister und die Medien sind schon lange weg, diskutiert Shimomura noch immer mit einer kleinen Gruppe. Die Menschen in Fukushima wollen sichergehen, dass ihre Stimme in Tokio gehört wird.